Die Steinerschule in Winterthur krempelt die Oberstufe um
Text: Jana Taina Bidaut
Wenn Kinder in die Schule kommen, können sie es kaum erwarten, endlich rechnen und schreiben zu lernen. Warum aber verlieren manche im Laufe ihrer Schulzeit diese Lernfreude? Wie können wir es Kindern und Jugendlichen ermöglichen, ihre eigenen Wege zu gehen? Wie bereiten wir sie auf eine Zukunft vor, die weder sie noch wir kennen?
Solche und andere Fragen beschäftigen einen, wenn man tagtäglich mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, die immer individueller und mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen auf einen zukommen, wenn man vor einer Klasse steht mit der Frage: Was wollt ihr heute von mir und wie kann ich euch gerecht werden?
Solche und andere Fragen, aber auch zahlreiche Gespräche über den Sinn von Schule und Lernen haben uns bewogen, nach intensiver Arbeit in diesem Schuljahr einiges im Schulalltag unserer Oberstufe (7.–9. Klasse) zu verändern.
Später Unterrichtsbeginn
Im vergangenen Schuljahr haben wir, eher aus der Not heraus, den Anfang des Hauptunterrichts der 9. Klasse auf die Zeit nach der grossen Pause verlegt. Davor hatten sie oft Fremdsprachen, Eurythmie, Handarbeit und Werken. Ihre Rückmeldungen an uns waren überwiegend positiv – sie seien im Hauptunterricht viel wacher und mehr «dabei».
Dazu kam, dass die Forschung zur Pubertät seit vielen Jahren betont, dass der Schlaf-Wach-Rhythmus Pubertierender ein anderer und in diesem Alter ein späterer Schulbeginn nützlich ist, da das Gehirn dann eher auf Lernen eingestellt ist. Also beschlossen wir, diese Erkenntnisse nun endlich ernst zu nehmen und verlegten den Unterrichtsbeginn für unsere 9. Klasse auf 8:55 Uhr. Die Erfahrungen mit dieser Umstellung sind überwiegend positiv. Optimal wäre es natürlich, den Tag mit Bewegung oder etwas Künstlerischem zu beginnen, aber das klappt aus stundenplantechnischen Gründen leider nicht immer. Aber vielleicht finden wir ja auch da noch eine Lösung.
Selbstorganisiertes Lernen
Ein anderes Feld, das uns immer wieder beschäftigt hat, ist das selbstorganisierte Lernen (SOL).
Schon nach der Lockdown-Zeit erfuhren wir von einigen Schülerinnen und Schülern, sie hätten es – bei allen Nachteilen, die das einsame Lernen mit sich brachte – geschätzt, sich ihre Zeit selbst einteilen zu können. Da uns dies in einem bestimmten Rahmen durchaus sinnvoll erschien, haben wir für die 7. und 8. Klasse bereits im vergangenen Schuljahr zweimal in der Woche eine SOL-Stunde eingeführt, in der die Schülerinnen und Schüler zunächst einmal an das selbstorganisierte Lernen herangeführt werden sollten. Unsere Hoffnung, dass sie diese Stunden auch klassenübergreifend nutzen würden, hat sich bis jetzt noch nicht erfüllt. Dennoch waren unsere Erfahrungen damit so, dass es diese SOL-Stunden in den Klassen 8 und 9 nun von Montag bis Donnerstag gibt. Wir versuchen in diesen Stunden, die Schülerinnen und Schüler dabei zu begleiten, sich ihre Lern- und Arbeitszeit selbst zu organisieren. Das klappt im Moment mal mehr, mal weniger gut, ist aber auf alle Fälle ein Weg, den wir weiter verfolgen werden. Sinn dieser Stunden ist es einerseits, dass die Schülerinnen und Schüler, die einen ziemlich vollen Stundenplan und unter Umständen auch einen langen Heimweg haben, zu Hause nicht noch stundenlang an den Hausaufgaben sitzen müssen, sondern Zeit haben, ihren Freizeitaktivitäten nachzugehen. Andererseits stehen ihnen während der SOL-Stunden Lehrerinnen und Lehrer zum Nachfragen zur Verfügung, so dass auch Eltern entlastet werden, die sich so nicht mehr mit fachlichen Aspekten der Hausaufgaben ihrer Jugendlichen «herumschlagen» müssen.
Eine weitere Neuerung, die wir eingeführt haben, sind die Wahlfächer. Die 8. und 9. Klasse hat nicht mehr Werken, Handarbeit, Zeichnen und Sport in festen Stunden. Diese Bereiche decken wir über Wahlfächer ab, die in Zeitblöcken von 4–5 Wochen stattfinden. Dabei werden montags und mittwochs für jeweils drei Lektionen Kurse in den Bereichen Bewegung, Kunst, Handarbeit/Werken, MINT sowie Ergänzungskurse angeboten. Hierbei wählen die Schülerinnen und Schüler innerhalb des Schuljahres aus jedem Bereich zwei Kurse; die restlichen Blöcke können sie frei nach ihren Interessen wählen. Unsere Absicht dabei war es, den Jugendlichen individuelle Lernwege zu ermöglichen und ihren Interessen mehr Raum zu geben. Allerdings zeichnet sich ab, dass es uns bisher nicht gelingt, ausserhalb der Eurythmiestunden, die es weiter als festen Bestandteil des Unterrichtsprogrammes gibt, genügend Bewegung in den Schulalltag zu integrieren. Dass Bewegung förderlich und wichtig für die Heranwachsenden ist, ist uns bewusst und wir suchen weiter nach gangbaren Wegen.
Neu sind auch die Projektstunden am Dienstagnachmittag. Diese Stunden sind für wechselnde Projekte gedacht. So schreibt die neunte Klasse in dieser Zeit an den Jahresarbeiten. Der Vorteil ist auch hier, dass Lehrkräfte für Fragen gleich zur Verfügung stehen, und auch die Treffen mit den Betreuungspersonen können in dieser Zeit stattfinden. Weiterhin bietet dieses Zeitgefäss auch Raum für Vertiefungen von Epochen- oder sonstigen Themen, die die Jugendlichen interessieren.
Schliesslich haben wir auch die Klassenstunden der Klassen 7–9 auf die gleiche Zeit gelegt, damit bei Bedarf von unserer oder von Seiten der Schülerinnen und Schüler ein Oberstufenforum stattfinden kann.
Ein weiteres Feld, auf dem wir unterwegs sind, ist der Gebrauch digitaler Medien. Bisher gab es das Fach Computerkunde als separates Fach für die Klassen 8 und 9. Davon sind wir in diesem Schuljahr abgerückt. Die achte Klasse bekam in den Projektstunden eine Einführung in die Textverarbeitung und konnte das Tastaturschreiben üben. Damit diese Fähigkeiten nicht «versanden», mussten sie das Epochenheft der folgenden Epoche am PC schreiben. In der vorigen achten Klasse haben wir versucht, den Stoff einer Deutschepoche – die Schiller-Biographie – in Stopp-Motion-Filme umzusetzen. Dieses Projekt machte Lust auf mehr! So sind z. B. im Geschichtsunterricht der neunten Klasse Podcasts in Planung, und wir sind auf der Suche nach weiteren Möglichkeiten, den Umgang mit digitalen Medien in die Epochen und anderen Fächer zu integrieren.
Zur Zeit sind wir bei einer ersten Evaluation dieser neuen Situation, in die wir sowohl die Schüler- und Elternschaft der Oberstufe als auch die Lehrpersonen und Eltern, die diese Kurse geben, einbeziehen. Auf die Rückmeldungen sind wir sehr gespannt.
Interessiert sind wir natürlich auch an einem Austausch mit Lehrpersonen aus anderen (Steiner-) Schulen, denn dass sich etwas ändern sollte, pfeifen die Spatzen von den Dächern.