Praxisbericht einer Steinerschule, die seit 2018 das selbstorganisierte Lernen in der Mittelschule lebt.

06:00

Die Kaffeemaschine brüht zwei Tassen Kaffee. Abwart und Schulleitung besprechen die Straftaten des Vortages: Essensreste an Arbeitsplätzen im Lernatelier, PET-Flaschen und Aludosen im Müll, Licht brennen lassen oder gar ein Kaugummi, der am Tischbein klebt (das gibt besonders Ärger). Unter der Kategorie «Schimpf» landen die Straftaten im wöchentlichen Newsletter für die Schülerinnen und Schüler.

6:30

Die ersten Lehrpersonen kommen an und genies­sen die morgendliche Ruhe zum Vorbereiten und für einen kurzen Schwatz, auch die Lerchen unter den Schülerinnen und Schülern sagen kurz «Hallo» und machen dann in der Küche des Aufenthaltsraumes Frühstück.

07:40

Im Lehrpersonenzimmer kommen die Lehrpersonen für die letzten taktischen Absprachen zusammen, bevor es losgeht. Die FOS hat 100 Schülerinnen und Schüler in vier Klassen; tagsüber sind ca. 10 Lehrpersonen da. Spontaneität und Agilität sind essentiell. Eine Lehrperson steckt im Stau, jemand muss für sie eine Einstimmung übernehmen. Wer braucht Hilfe bei der Testaufsicht? Welches Zimmer ist frei für einen frontalen Input in der 11. Klasse? etc.

07:45

Die erste Warnglocke klingelt, es ist tatsächlich eine Art Alarm, denn nun beginnt ein kurzes und sehr intensives Gewusel um den Eingang, wo der Handykasten steht. Die Schülerinnen und Schüler kommen hereingerannt und versuchen ihr Mobiltelefon noch in letzter Sekunde in ihr persönliches Fach des Handykastens zu legen, bevor dieser pünktlich verriegelt wird. Die Regel: Wer sein Handy um 07:50 im Kasten hat, ist anwesend, wer es nicht schafft, kassiert eine Verspätung. Der Wirbel legt sich genauso schnell, wie er entstanden ist, denn alle verschwinden nun in ihre Einstimmung und der Gang ist wieder leer.

07:50

Einstimmung statt Morgenspruch: Klassenübergreifend findet Yoga, Bogenschiessen, Schach, Meditieren und Spazieren statt. Für 25 Minuten den Kopf auslüften, sich routiniert treiben lassen, in die Ruhe und die Besinnung kommen.

Foto: FOS Freie Mittelschule

08:15

Nun beginnt eine eigenwillige Choreographie, ein strukturiertes Chaos. Im Stundenplan ist jeder Klasse ein Fach zugewiesen, der Stundenplan kennt Sprach- und Kurs-Tage (Epoche heisst an der FOS Kurs). Die Lehrpersonen machen abwechselnd Inputs, individuelle mündliche Prüfungen, Erklär-Settings, Übungs-Settings, spontane Inter­ventionen, je nach Bedarf und je nach Semesterplan. Gewisse Lehrpersonen machen Coachinggespräche und üben mit den Schülerinnen und Schülern, eine Agenda zu führen, Prioritäten zu setzen, Kräfte und Fähigkeiten schlau einzusetzen, Herausforderungen als Chancen zu sehen und ins Arbeiten zu kommen. In der Küche, welche in der Mitte des Gebäudes offen zum Verweilen einlädt, finden sich Gruppen zum Tee oder Kaffee, die die bevorstehende Prüfung vorbesprechen, sich gegenseitig für das bildnerische Gestalten porträtieren oder sich durch interessante Gespräche gegenseitig vom Arbeiten abhalten, bis sie von einer Lehrperson wieder in Verlegenheit und hoffentlich ins Arbeiten gebracht werden.

09:55

Kurz vor der Pause beginnen die ersten, vor dem Handykasten herumzulungern. Dieser geht mit dem Pausenklingeln auf. Das Lehrpersonen-Team tauscht sich bei Kaffee aus, Vorgefallenes wird besprochen, Pläne werden geändert und angepasst, Schülerinnen und Schüler klopfen mit allerhand Fragen an.

10:30

Mit dem ersten Warn-Klingeln wird das Ende der Pause angekündigt und es beginnt wieder der Run auf den Handykasten, um keine Verspätung zu kassieren. Dann geht der SOL wieder los: Prüfungsgespräche, Vorträge, selbstständiges Arbeiten, Bücherclubs, spontane oder geplante, freiwillige oder verbindliche Inputs etc. Schülerinnen und Schüler erklären an der Tafel im Eurythmiezimmer einer versammelten Klasse die Grammatik des nächsten Französischtests. Beim Betreten des Zimmers erschrickt man sich als Lehrperson kurz, entschuldigt sich und schliesst wieder die Tür. In anderen Zimmern entdeckt man Jugendliche, die ein Schlupfloch gefunden haben und dort sich bis zum Mittag einrichten wollen, die werden dann verjagt.

Die Lehrpersonen, die nicht gerade eingebunden sind, bewegen sich durch die Gänge und Ateliers und wechseln ab zwischen Ermahnen und Helfen. Im SOL ist es die Hauptaufgabe der Lehrperson, atmosphärisch zu wirken: eine ernsthafte Arbeitsstimmung soll in Schwung kommen, welche die Schülerinnen und Schüler erhebt und beflügelt, anstatt sie zu zwingen und zu drücken – ein ewiger fabelhafter Seiltanz.

In der Küche haben sich unterdessen einige aus der 13. Klasse breit gemacht, sie haben Pause zwischen zwei Matura-Probeprüfungen und machen Pfannkuchen, während welche aus der Zehnten daneben Biologie-Plakate zeichnen und eine Zwölftklässlerin zwei anderen Mathe erklärt – in der Küche und im Aufenthaltsraum dürfen sie schwatzen.

12:30

Mittagspause, der Handykasten geht auf, die Herdplatten und Mikrowellen springen an, es zischt und brutzelt und Küchengeruch breitet sich aus. Die Lehrpersonen des Vormittags bleiben teilweise zum Mittagessen, andere gehen heim oder weiter. Die Lehrpersonen des Nachmittags kommen langsam an. Im Lehrpersonenzimmer findet sich immer eine Gruppe um den runden Tisch zum Mittagessen, bis …

Foto: FOS Freie Mittelschule

13:30

… wieder die Alarmglocke klingelt, sich der Handykasten füllt und der Nachmittagsunterricht beginnt. Künstlerisch, handwerklich und projektorientiert geht es in kleineren Gruppen, teilweise auch klassenübergreifend ans Werk: Es wird Tango getanzt, Eurythmie gemacht, geschustert, gelötet, fotografiert, gedruckt, gemalt, Aikido praktiziert, geschreinert, genäht und vieles mehr.

15:00

Schichtwechsel! Die einen haben Feierabend, andere arbeiten weiter und die Maturvorbereitungsgruppen der unteren Klassen beginnen sich in Mathematik, Biologie, Chemie oder Französisch zu spezialisieren. In der Schule wird es ruhiger.

17:30

Im Lernatelier der 12. Klasse brennt noch Licht, die Schülerinnen und Schüler bereiten sich auf die Prüfung am nächsten Tag vor. Doch mit der letzten Lehrperson müssen auch sie die Schule verlassen. Einzig im Lernatelier der 13. Klasse sitzen noch zwei; sie haben einen eigenen Zugang zum Schulhaus und tragen dafür auch die Verantwortung.

18:30

Unterdessen sind alle gegangen: Das Schulhaus ist leer, in der 11. Klasse sind noch drei Fenster offen und das Licht brennt, obwohl niemand da ist. In der 10. Klasse liegt eine Unmenge an Aludosen, die jemand an seinem Platz über Wochen gesammelt hat und die umgefallen sind … Der Abwart beginnt seine Abendrunde.

Foto: FOS Freie Mittelschule

Zu den Autoren: Matthias Jeker und Lionel Wirz haben selbst vor 20 Jahren die FOS besucht und sind nach abgeschlossenem Studium als Lehrkräfte und Schulleitungsmitglieder wieder an die FOS zurückgekehrt. Sie haben die Weiterentwicklung der FOS auf SOL mitgetragen und sind jeden Tag dabei, die FOS weiter zu entwickeln.

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